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lehre:sose2017:sozialwissmeth:analysen:faehnrich:tandem29

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 ====Einleitung ==== ====Einleitung ====
  
 +In Oliver Fähnrichs Dissertation „Jugendkriminalität – Biographische Kontexte straffälliger Jugendlicher“ beschäftigt sich der Autor mit jungen Straftätern und deren Erfahrungen. Hierfür werden auf freiwilliger Basis Interviews mit solchen Jugendlichen geführt, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen sie aufgewachsen sind, wie sie selbst ihre Erfahrungen und Lebensumstände deuten und welche Beschreibungs- und Selbstdeutungsmuster sich daraus ergeben.
 ==== Verhältnis Theorie-Gegenstand==== ==== Verhältnis Theorie-Gegenstand====
  
 +Der erste Schritt in Fähnrichs Studie ist die Formulierung einer Ausgangsthese innerhalb seines Untersuchungsgegenstands. Dieser Gegenstand ist in Fähnrichs Studie die Sicht jugendlicher Wiederholungstäter auf ihre eigenen Straftaten (Fähnrich, 2009, S. 7). Die These dazu entwickelt er anhand vorheriger Literaturrecherche. Von dieser These werden anschließend Forschungsfragen abgeleitet, die für ihre Untersuchung, bzw. Überprüfung notwendig sind (Fähnrich, 2009, S. 7). Dieses Vorgehen erinnert an die “Modellbildung”, die Flick im Zusammenhang mit theoretischen Vorannahmen und Untersuchungsgegenständen beschreibt (Flick, 1995, S. 150). Fähnrichs Ausgangsthese “dass (...)  eine “subjektive kriminelle Karriere“ existiert”, (Fähnrich, 2009, S. 7) ist gleichzusetzen mit Flicks Vorstellungen eines Modells. Die daraus abgeleiteten Forschungsfragen sind vergleichbar mit den Hypothesen, die es laut Flick zu überprüfen gilt (Flick, 1995, S. 150). Die Jugendlichen, die für Fähnrichs Studie interviewt wurden, stehen stellvertretend für straffällige Jugendliche im Allgemeinen und könnten somit auch gegen Andere ausgetauscht werden. Sie dienen der Beantwortung der Forschungsfragen zur Überprüfung der Ausgangsthesen (Fähnrich, 2009, S. 8). Die Animation zum eigenständigen Redefluss der Interviewten durch die Interviewenden (Fähnrich, 2009, S. 123) entspricht dem Prinzip der Offenheit innerhalb des von Flick vorgestellten Ansatzes der Grounded Theory, welches die Zurückstellung theoretischen Vorwissens vorsieht, um eine eigenständige Strukturierung durch die Forschungssubjekte selbst zu ermöglichen (Flick, 1995, S. 150). 
 ==== Fragestellung, Forschungsperspektiven==== ==== Fragestellung, Forschungsperspektiven====
  
 +Um die oben genannten Ziele zu erreichen, stellt sich Fähnrich in seiner Arbeit zwei zentrale Fragen: „Wie deuten die Jugendlichen ihre aktuellen Lebensumstände und biografischen Erfahrungen (einschließlich ihrer Straftaten) selbst? Lassen sich typische Selbstdeutungsmuster der Jugendlichen bezüglich ihrer aktuellen Lebensumstände sowie biografischen Erfahrungen (einschließlich Straftaten) feststellen?“ (Fähnrich, 2009, S.103). Es gibt viele empirische Forschungsanalysen zum Thema Jugendkriminalität, in denen jedoch die betroffenen Jugendlichen außer Acht gelassen werden und den Vorstellungen der Jugendlichen über ihr kriminelles Verhalten zu wenig Bedeutung beigemessen wird (Fähnrich, 2009, S.102). Fähnrich nähert sich in dieser Studie dagegen aus der Perspektive des institutionellen Feldes an das Thema an. Somit kann er die in diesem Feld agierenden Subjekte verstehen und deren Einschätzung darlegen (Flick, 1995, S.152).
 ==== Annäherung ans Feld==== ==== Annäherung ans Feld====
  
 +Um sich an das Feld anzunähern, nimmt Fähnrich im Frühjahr 2006 Kontakt mit dem hessischen Polizeikommissariat auf, um an Informationen von straffälligen Jugendlichen zu gelangen. „Dort wurde im Juni 2005 eine Ermittlungsgruppe „Kompass“ gegründet, die sich mit „Besonders auffälligen Straftätern unter 21 Jahren“ (BASU 21) beschäftigt.“ (Fähnrich, 2009, S. 105). Innerhalb dieses Programms werden Jugendliche vertraulich interviewt, die Informationen schriftlich in sogenannten Personagrammen fixiert und anschließend zur Verfügung gestellt (Fähnrich, 2009, S. 123). Die Informationen werden anonymisiert festgehalten, wodurch die Polizei keinerlei Bedenken bei der Weitergabe der Informationen hat (Fähnrich, 2009, S. 105). Fähnrich fokussiert sich anfangs auf die Methode des Selektiven Samblings, demnach wurden vorab 80 Jugendliche anhand verschiedener Kriterien ausgewählt. Diese Methode musste jedoch wegen geringer Resonanz zustimmender Befragter verworfen werden. Die Untersuchungsgruppe wurde dann letztendlich anhand einer Zufallsstichprobe erstellt (Fähnrich, 2009, S. 121).
  
 ==== Sammlung der Daten==== ==== Sammlung der Daten====
  
 +Fähnrich nutzt in seiner Arbeit Methoden der qualitativen Sozialforschung (Fähnrich, 2009, S. 118). Es werden Interviews mit den Jugendlichen geführt, um Informationen über deren Erfahrungen und Lebensumstände zu erhalten. Fähnrich entscheidet sich an dieser Stelle für ein Befragungsverfahren, nämlich das Leitfadeninterview (Fähnrich, 2009, S.118) und somit für die Datenerhebung zwischen Subjekt und Forscher (Flick, 1995, S.158). Bei dieser Befragungsmethode dient der Leitfaden oft nur zur groben Orientierung, die Interviewenden sind dabei hinsichtlich der Formulierungen und Reihenfolge der Fragen ungebunden (Hopf, 1995, S.177). Fähnrich sieht darin den Vorteil, dass das Interview einen Gesprächscharakter erhält und der Interviewte zum angeregteren Austausch motiviert wird (Fähnrich, 2009, S.119). Die Gefahr der Wahrheitsverzerrung (Flick, 1995, S.157) wird in Fähnrichs Studie durch die offen gehaltenen Fragen relativiert. Die Befragten haben dadurch die Möglichkeit, ihren Antworten eine eigene Schwerpunktsetzung zu geben. Die Interviews werden einzeln und ohne die Anwesenheit weiterer Beteiligter geführt, um die Anonymität der Befragten zu bewahren (Fähnrich, 2009, S.123). Außerdem werden sie auf einem Tonträger aufgenommen, damit möglichst viele und vorallem wahrheitsgemäße Informationen festgehalten werden (Fähnrich, 2009, S.122).
 ==== Fixierung der Daten==== ==== Fixierung der Daten====
  
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 ==== Interpretation der Daten==== ==== Interpretation der Daten====
  
 +Um die in den Leitfrageninterviews erhaltenen Daten auszuwerten und interpretieren zu können, werden sie transkribiert und mit sämtlichen weiteren Materialien zusammengestellt. Auf diese Weise entstehen erste Einzelfallporträts, welche dann in Kategorien und Subkategorien unterteilt werden. Fähnrichs Datenauswertung bezieht sich dabei in erster Linie auf Flicks Schritte des thematischen Kodierens (Flick, 2007, S.403f). So gehen in Fähnrichs Studie beispielsweise aus der Kategorie „Familie“ die Subkategorien „Eltern“, „Geschwister“ und „sonstige“ hervor (Fähnrich, 2009, S.126f). Das dadurch entstandene Kategoriensystem wird auf die weiteren Fälle übertragen und angepasst, sodass ein einheitliches Kategoriengerüst entstehen kann. Jede Kategorie wird anschließend beschrieben und auf das „Falltypische“ untersucht. Danach werden die Fälle nach Ähnlichkeiten eingeteilt, um eine Gegenüberstellung zu erleichtern. So gibt es beispielsweise acht Fälle, in denen die Täter angaben, einen strukturierten Tagesablauf zu haben, während dies bei den drei weiteren Tätern nicht der Fall war. (Fähnrich, 2009, S.129). Nach dem darauffolgenden Anlegen sogenannter Zeittafeln, die durch chronologische Sortierung biographischer Ereignisse dabei helfen sollen, eventuelle erste Weichenstellungen auszumachen, werden erste Gruppierungen der Täter vorgenommen. Die Gruppierung geschieht dabei auf zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene wird in verschiedene „Situationstypen“ eingeteilt. Diese beschäftigten sich mit den aktuellen Lebensumständen in Bezug auf Kriminalität. Auf der zweiten Ebene erfolgt die Einteilung in „Biographietypen“, also in Bezug auf biographische Erfahrungen und Kriminalität. Letztlich werden beide Ebenen auf Zusammenhänge untersucht und neue Typen, sogenannte „Lebenslagentypen“, gebildet (Fähnrich, 2009, S.131-134).
 ==== Geltungsbegründung==== ==== Geltungsbegründung====
  
 +Um die Studie geltend zu machen, ist es notwendig, dass der Forschende sich einerseits dem Wahrheitsgehalt seiner gesammelten Daten bewusst ist und diesen zum anderen für Dritte transparent macht, sodass der Forschungsprozess für jeden nachvollziehbar ist (Flick, 1995, S.167). Fähnrich arbeitet in Bezug auf die Auswahl der zu Interviewenden mit einem hessischen Polizeipräsidium zusammen. Die Täter erklären sich freiwillig zum Interview bereit, bleiben anonym und sind nicht dazu gezwungen Fragen zu beantworten, die ihnen unangenehm sind. Dadurch wird der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen möglichst hoch gehalten (Fähnrich, 2009, S.119). Flick kritisiert an Leitfadeninterviews, dass durch die Hinderung des uneingeschränkten Redeflusses die Authenzität verloren gehen könnte (Flick, 1995, S.168). Dieser Gefahr geht man in Fähnrichs Studie jedoch aus dem Weg, indem die Leitfragen eher offen formuliert werden und weniger der strukturierten Abarbeitung, als viel mehr einer groben Orientierung dienen. 
 ==== Forschung als Diskurs==== ==== Forschung als Diskurs====
 +Nach Flick beschreibt „Forschung als Diskurs“ das Subjektverständnis der Forschung, also die Reflexion und Auswertung der erhobenen Daten im Zusammenhang mit der Thematik (Flick, 1995, S. 170). Dieser Prozess läuft laut Flick in drei Schritten ab (Flick, 1995, S. 170). Die ersten zwei Schritte werden nach  kommunikativer Validierung praktiziert (Flick, 1995, S. 170). Im ersten Schritt kann der Forscher nach der Zustimmung der Befragten deren Aussagen rückmelden und zugänglich machen. In Fähnrichs Studie wird den Befragten lediglich die Anonymität zugesichert (Fähnrich, 2009, S.123), jedoch werden die Aussagen nicht zurückgemeldet und dem Erforschten zur Verfügung gestellt. Im zweiten Schritt sollen die Erforschten mit in die „Interpretation der Daten“ einbezogen werden, beziehungsweise eine Rückmeldung bekommen (Flick, 1995, S.170). Passiert solch eine Rückmeldung nach der „Interpretation der Daten“ nicht, sollte im dritten und letzten Schritt die Rückmeldung nach Abschluss der Forschung selbstverständlich sein (Flick, 1995, S.170). Dies wird in Fähnrichs Studie nur ansatzweise erkennbar. Ausschließlich ist bekannt, dass die Forschungsergebnisse nach Beendigung der Forschung an die zuständige Stelle des Polizeipräsidiums weitergegeben und dort zugänglich gemacht werden (Fähnrich, 1995, S. 105).
  
 ==== Literatur ==== ==== Literatur ====
-  * Flick, Uwe. Sozialforschung. Methoden und Anwendungen Ein Überblick für die BA Studiengänge. Hamburg.(2014)+       * Fähnrich, Oliver (2009): Jugendkriminalität. Biografische Kontexte straffälliger Jugendlicher. Dissertation. Dortmund: Technische Universität Dortmund. 
 +       * Flick, Uwe (1995): "Stationen des qualitativen Handlungsprozesses" In: Flick, Uwe/ vKardorff, Ernst/ Keupp, Heiner/ v. Rosensteil, Lutz/ Wolff, Stephan (Hrsg.): "Handbuch qualitative Sozialforschung - Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen". Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union, S.148-173. 
 +       * Flick, Uwe (2014): "Sozialforschung. Methoden und Anwendungen Ein Überblick für die BA Studiengänge". Hamburg.    
 +       * Flick, Uwe (2007): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 
 +        Hopf, Christel (1995): "Qualitative Interviews in der Sozialforschung. Ein Überblick". In: Flick, Uwe/ v. Kardorff, Ernst/ Keupp, Heiner/ v. Rosensteil, Lutz/ Wolff, Stephan (Hrsg.): "Handbuch qualitative Sozialforschung - Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen". Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union, S.177-182.
  
 ===== Kommentare ===== ===== Kommentare =====
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